Differenzieren 2

Zusammenfassung:
Dieses Kapitel ist der Vertiefung der Differentialrechnung gewidmet. Eine präzise Definition des Begriffs der Differenzierbarkeit und der Ableitung stellt die Analysis auf ein sicheres Fundament. Lehrreich ist es auch, Funktionen zu betrachten, deren Eigenschaften die geometrische Anschauung irritieren.

Stichworte:
Differenzierbar | Präzise Definition der Ableitung | Rechts- und linksseitige Ableitung | Differenzierbarkeit impliziert Stetigkeit | Stetig differenzierbar | Nirgends differenzierbar | Selbstähnlichkeit | Fraktal | Verallgemeinerungen


Auf einen Blick: Ableitungsregeln und Ableitungen

 
                                                                                                                                                                                                                                               
    
Differenzierbar
        
    

Im ersten Kapitel über das Differenzieren haben wir viele nützliche Dinge besprochen, waren aber in manchen Punkten etwas oberflächlich. Dieses zweite Kapitel ist nun der Vertiefung der begrifflichen Grundlagen gewidmet, stellt daher höhere Ansprüche hinsichtlich Abstraktion und Exaktheit als das erste. Wir beginnen damit, genauer zu definieren, wann wir eine Funktion als differenzierbar bezeichnen und was die Ableitung ist.

 
Ableitung

     



Differenzieren 1
 
     Die Ableitung einer reellen Funktion f an einer gegebenen Stelle x ist ein "lokales" Konzept, das auf einem Vergleich des Funktionswerts f(x) mit Funktionswerten an nahe benachbarten Stellen beruht. Wie "nahe" diese Vergleichsstellen bei x liegen, ist dabei gleichgültig - wichtig ist aber, dass es sich um ein Kontinuum von Vergleichsstellen handelt. Wir formulieren diese Idee genauer, indem wir verlangen, dass es eine reelle Zahl a > 0 gibt, so dass das (offene) Intervall (x - a, x + a) ganz im Definitionsbereich von f liegt, d.h. dass von jedem Element x' dieses Intervalls der Funktionswert f(x') wohldefiniert ist. Ein offenes Intervall, in dem x liegt, bezeichnen wir als Umgebung von x. Wir verlangen also, dass f in einer Umgebung von x wohldefiniert ist. Mit J bezeichnen wir die Menge aller Punkte des Intervalls (x - a, x + a), die ungleich x sind.      
 
 
    

Definition:
f heißt an der Stelle x differenzierbar, wenn es eine reelle Zahl c mit folgender Eigenschaft gibt: Für jede Folge (x1, x2, ...) reeller Zahlen xn Î J, die gegen x konvergiert, gilt
 
      f(xn) - f(x)
xn - x
  =  c .
lim
n ® ¥
  (1)

Wir nennen dann c die Ableitung von f an der Stelle x und bezeichnen sie mit f '(x).

     

Folgen und
Grenzwerte
 
     Bemerkungen:
  1. Besonders wichtig an dieser Definition ist das Wort "jede".
  2. Der Ausdruck (f(xn) - f(x))/(xn - x) ist der Differenzenquotient bezüglich der Stellen x und xn. Geometrisch interpretiert, stellt er den Anstieg der Geraden (Sekante) durch die Punkte (x, f(x)) und (xn, f(xn)) dar.
  3. Falls der Grenzwert (1) für jede der in Frage kommenden Folgen existiert, schreiben wir symbolisch

            f(x' ) - f(x)
    x' - x
      .
    f '(x)   =   lim
      x® x
      (2)

    Intuitiv deutet diese Schreibweise an, dass x' der Stelle x immer näher kommt. Genau genommen dürfen wir uns das aber nicht bloß als einen Annäherungsprozess vorstellen (das entspräche dem Grenzwert (1) für eine Folge). Wichtig ist, dass das Resultat von der Art und Weise, wie sich x' an x annähert, nicht abhängen soll. Die exakte Formulierung dieser Forderung ist die obige Definition.
  4. Mit e = x' - x erhalten wir aus (2) die Schreibweise

            f(x + e) - f(x)
    e
      ,
    f '(x)   =   lim
      e ® 0
      (3)

    die wir im ersten Differenzieren-Kapitel verwendet haben.
  5. Es gibt eine der Definition (1) gleichwertige Formulierung, die den Bezug die Begriffe der Folge und der Konvergenz vermeidet. Sie können sie mit dem nebenstehenden Button aufrufen.
     
     

Grenzwerte reeller Funktionen










Schreibweise mit e


alternative


 
 
     Die meisten "elementaren" mathematischen Funktionen (insbesondere Polynome, rationale Funktionen, Potenz-, Winkel-, Exponential- und Logarithmusfunktionen) sind innerhalb ihres Definitionsbereichs differenzierbar (wobei zunächst über Randstellen nichts gesagt wird, mehr dazu weiter unten). Mit dem nebenstehenden Button können Sie als Beispiel die genaue Argumentation, die auf die Differenzierbarkeit und die Ableitung der Funktion f(x) = x2 führt, aufrufen.

Aufpassen sollten Sie bei abschnittsweise (stückweise) termdefinierten Funktionen und bei Termen, die die Betragsfunktion enthalten. Hier ein paar Beispiele von Funktionen, deren die Differenzierbarkeit nicht an allen Stellen gegeben ist:
Beispiel 1: Die Funktion
  {      x1/3      wenn x ³ 0
f(x)   =  
  -(-x)1/3      wenn x < 0
  (4)

ist die Inverse der Funktion g(x) = x3. Sie ist an der Stelle 0 nicht differenzierbar. Beweis: Für die Folge xn = 1/n gilt (f(xn) - f(0))/(xn - 0) = n2/3, was für n ® ¥ klarerweise nicht konvergiert. Daher kann es die in der Definition (1) verlangte Zahl c nicht geben. Der geometrische Grund für dieses Verhalten wird klar, wenn Sie sich den Graphen von f ansehen (z.B. indem Sie den Ausdruck (abs(x)/x)*abs(x)^(1/3) in den Funktions-Plotter eingeben): Er besitzt zwar im Punkt (0, 0) eine Tangente, aber diese ist "vertikal", hat also keinen endlichen Anstieg.

Beispiel 2: Die Betragsfunktion f(x) = |x| ist an der Stelle 0 nicht differenzierbar. Für jede von oben (d.h. von rechts = von positiven Werten) gegen 0 konvergierende Folge (xn) ist die linke Seite der Formel (1) gleich 1, für jede von unten (d.h. von links = von negativen Werten) gegen 0 konvergierende Folge ist sie gleich -1, und für Folgen, wie zwischen positiven und negativen Werte oszillieren, existiert der Grenzwert nicht. Daher kann es die in der Definition (1) verlangte Zahl c nicht geben. Der geometrische Grund dafür ist hier der Knick im Graphen (geben Sie abs(x) in den Funktions-Plotter ein), der die Existenz einer (eindeutigen) Tangente im Punkt (0, 0) verhindert.
     



 
     Eine präzise Definition der Differenzierbarkeit ist aber nicht nur für praktische Rechnungen wichtig, sondern auch, um mathematische Aussagen, in denen die Ableitung vorkommt (wie z.B. die in einem früheren Kapitel diskutierte Regel von de l'Hospital) verlässlich beweisen bzw. die genauen Voraussetzungen, unter denen sie gelten, angeben zu können .

 
Rechts- und linksseitige Ableitung

Manchmal möchte man zwar die Formel (1) beibehalten, aber nur Folgen betrachten, die sich von "oben" (d.h. von "rechts") oder von "unten" (d.h. von "links") an x annähern. Zudem kann der Definitionsbereich von f ein Intervall und x eine Randstelle dieses Intervalls sein. Dann gibt es keine Umgebung von x, die ganz im Definitionsbereich von f läge, und die obige Konstruktion ist genau genommen nicht möglich.

Für solche Situationen definiert man die rechtsseitige (linksseitige) Differenzierbarkeit wie oben, mit dem einzigen Unterschied, dass J auf ein Intervall der Form (x, x + a) bzw. (x - a, x) eingeschränkt wird. Die Aussage xn Î J, die in der Definition vorkommt, bedeutet dann im ersten Fall, dass die Folge (xn) von oben (d.h. von rechts) gegen x konvergiert, im zweiten Fall, dass sie von unten (d.h. von links) gegen x konvergiert. Wenn der Grenzwert (1) für alle diese rechtsseitigen (linksseitigen) Folgen existiert, nennt man ihn rechtsseitige (linksseitige) Ableitung von f an der Stelle x.

Beispiel 1: Die Funktion f(x) = 1 - x2 wird auf dem abgeschlossenen Intervall [0, 1] betrachtet. Sie ist - im Sinn von Definition (1) - im offenen Intervall (0, 1) differenzierbar, ihre Ableitung ist dort durch f '(x) = -2x gegeben. Weiters existiert an der linken Randstelle die rechtsseitige Ableitung und an der rechten Randstelle die linksseitige Ableitung. Falls wir für diese ebenfalls die Bezeichnung f ' verwenden, können wir schreiben: f '(0) = 0 und f '(1) = -2, und in diesem Sinn gilt die Formel f '(x) = -2x im gesamten abgeschlossenen Intervall [0, 1].

Beispiel 2: Die Wurzelfunktion f(x) = x1/2 ist für alle x ³ 0 definiert. Sie ist im Sinn der Definition (1) für alle x > 0 differenzierbar. Die Randstelle x = 0 besitzt keine Umgebung, die ganz im Definitionsbereich läge, daher können wir an ihr nur nach der Existenz der rechtsseitigen Ableitung fragen - eine kurze Rechnung zeigt, dass diese nicht existiert. (Führen Sie die Rechnung selbst durch, indem Sie die Folge xn = 1/n verwenden! Was ist der geometrische Grund für dieses Verhalten?)

Beispiel 3: Die Funktion f(x) = x3/2 ist für alle x ³ 0 definiert. Sie ist im Sinn der Definition (1) für alle x > 0 differenzierbar. Die Randstelle x = 0 besitzt keine Umgebung, die ganz im Definitionsbereichs läge, daher können wir an ihr nur nach der Existenz der rechtsseitigen Ableitung fragen. Diese existiert und hat den Wert 0. Beweis: Ist (xn) eine von rechts gegen 0 konvergierende Folge (d.h. xn > 0), so gilt (f(xn) - f(0))/(xn - 0) = (xn3/2 - 0)/(xn - 0) = xn1/2, was für n ® ¥ gegen 0 konvergiert.

Beispiel 4: Die Betragsfunktion f(x) = |x| ist, wie oben erwähnt, an der Stelle 0 nicht differenzierbar. Aber sowohl die rechtsseitige Ableitung (sie hat den Wert 1) als auch die linksseitige Ableitung (sie hat den Wert -1) existieren an dieser Stelle.
Besitzt x eine Umgebung, die ganz im Definitionsbereich von f liegt, und ist f an der Stelle x differenzierbar, so existiert auch die rechts- und die linksseitige Ableitung, und beide stimmen mit der Ableitung überein. Umgekehrt folgt aus der Existenz und Übereinstimmung der rechts- und linksseitigen Ableitungen an einer Stelle x, dass f dort differenzierbar ist.

 
Differenzierbarkeit impliziert Stetigkeit
     

Regel von
de l'Hospital
 
    
Intuitiv gesprochen, erkennt man eine stetige Funktion daran, dass ihr Graph keine Sprungstellen hat. Da - ebenso intuitiv gesprochen - der Graph einer differenzierbaren Funktion keine Knicke hat, ist zu erwarten, dass eine differenzierbare Funktion stetig ist - denn was sollte der Anstieg des Graphen an einer Sprungstelle sein? Diese Vermutung ist tatsächlich richtig, auch wenn ein präziserer Begriff der Stetigkeit zugrunde gelegt wird.
     
 
 
    
Satz: Ist f an der Stelle x differenzierbar, so ist f dort auch stetig.
Der Beweis dieser Behauptung ist fast trivial: Sei f an der Stelle x differenzierbar, und sei (xn) eine Folge reeller Zahlen xn Î J, die gegen x konvergiert, d.h. für die

     (xn - x)   =  0 
lim
n ® ¥
  (5)

gilt. Dann existiert der Grenzwert (1), und wenn wir die linken Seiten von (1) und (5) miteinander multiplizieren, ergibt sich

     ( f(xn) - f(x))   =  0,
lim
n ® ¥
  (6)

was auch in der Form

     f(xn)  =  f(x) 
lim
n ® ¥
  (7)

geschrieben werden kann. Das drückt aber gerade die Stetigkeit von f an der Stelle x aus: Wann immer eine Folge gegen x konvergiert, so konvergiert die Folge der Funktionswerte gegen f(x). Damit ist der Satz bewiesen.
     

Stetigkeit
 
     Eine Variante des Satzes lautet: Existiert an einer Stelle die rechtsseitige (linksseitige) Ableitung einer Funktion, so ist diese dort rechtsstetig (linksstetig). Sie kann genauso bewiesen werden, mit dem einzigen Unterschied, dass J auf ein Intervall der Form (x, x + a) bzw. (x - a, x) eingeschränkt wird, d.h. dass nur Folgen, die von rechts (links) gegen x konvergieren, betrachtet werden.

 
     

rechts- und linksstetig
 
    
Stetig differenzierbar
     
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Wir besprechen nun ein Phänomen, das der Intuition ein bisschen zuwiderläuft: Die Ableitung einer Funktion - die ja selbst wieder eine Funktion ist - ist nicht unbedingt stetig. Daher formulieren wir zunächst eine

Definition: Eine in einem offenen Intervall A differenzierbare reelle Funktion heißt an der Stelle x Î A stetig differenzierbar, wenn ihre Ableitungsfunktion an der Stelle x stetig ist.

Funktionen, die nicht stetig differenzierbar sind, kommen beim Lösen praktischer Aufgaben selten vor. Um aber den Begriff der Differenzierbarkeit besser zu verstehen, sehen wir uns ein Beispiel an:

Beispiel: Gegeben sei die auf ganz R definierte Funktion
  {      x2 sin(1/x)      wenn x ¹ 0 
f(x)   =  
  0      wenn x = 0.
  (8)

Sehen Sie sich zuerst einmal ihren Graphen an (z.B. im Funktions-Plotter - geben Sie einfach x^2*sin(1/x) ein und zoomen Sie sich ein bisschen näher. Hilfreich ist es auch, gleichzeitig die Graphen von x^2 und -x^2 anzuzeigen). Sie oszilliert in der Nähe der Stelle 0 sehr stark: Da der Sinus auf 1/x angewandt wird, werden in gewisser Weise alle Oszillationen der Sinusfunktion ins Endliche geholt und häufen sich nahe 0. Die Funktion f wird dort aber auch sehr klein - das besorgt der Faktor x2. (Er "dämpft" die Oszillationen, wenn man so will). Vergewissern wir uns nun, dass f differenzierbar ist. Ist x ¹ 0, so berechnen wir mit Hilfe der Produkt- und der Kettenregel f '(x) = 2x sin(1/x) - cos(1/x). An der Stelle 0 müssen wir gemäß Definition (1) vorgehen: Sei (xn) eine Folge reeller Zahlen xn ¹ 0, die gegen 0 konvergiert. Dann ist (f(xn) - f(0))/(xn - 0) = xn sin(1/xn). Da der Sinus-Anteil immer zwischen -1 und 1 beschränkt bleibt, konvergiert diese Folge der Differenzenquotienten gegen 0, gleichgültig, welche Folge (xn) man gewählt hat. Daher ist f überall differenzierbar, und die Ableitungsfunktion ist durch
  {      2x sin(1/x) - cos(1/x      wenn x ¹ 0
f '(x)   =  
  0      wenn x = 0
  (9)

gegeben. Sehen Sie sich deren Graphen ebenfalls an! Wie f oszilliert f ' stark in der Nähe der Stelle 0, wird aber im Gegensatz zu f nahe 0 nicht klein. Das können wir auch dem Ausdruck (9) ansehen, in dem der Cosinus-Term nicht mit einer positiven Potenz von x multipliziert vorkommt und daher ("ungedämpft") zwischen -1 und 1 oszilliert, wenn sich x an 0 annähert.

f ' scheint also nicht stetig zu sein. Zum formalen Beweis betrachten wir die gegen 0 konvergierende Folge xn = (2pn)-1 und berechnen f '(xn) = (pn)-1 sin(2pn) - cos(2pn) = -1. Diese (konstante) Folge konvergiert gegen -1, was nicht f '(0) ist. Daher ist f ' an der Stelle 0 unstetig.
Dieses Beispiel zeigt auch, dass der Begriff der "Tangente an den Graphen" seine Tücken hat. Hätten Sie aufgrund einer Betrachtung des Graphen der Funktion (8) schließen können, dass er im Punkt (0, 0) eine wohldefinierte Tangente besitzt und wie groß ihr Anstieg ist? Versuchen Sie, die Unstetigkeit der Ableitung dieser Funktion vom Standpunkt der "Ableitung als Anstieg der Tangente" zu verstehen!

 
     
 
 
    
Nirgends differenzierbar
     
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Nun wenden wir uns einem Extremfall zu, der die geometrische Anschauung noch stärker irritiert als die oben besprochenen Funktionen, deren Ableitung nicht stetig ist: Es gibt Funktionen, die zwar stetig, aber an keiner Stelle ihres Definitionsbereichs differenzierbar sind!
Beispiel 1: Wir gehen von der so genannten Sägezahnfunktion g aus. Im Intervall [-1/2, 1/2] stimmt sie mit der Betragsfunktion überein und wird mit Periode 1 für alle reellen Zahlen fortgesetzt. Nun betrachten wir nacheinander die folgenden Funktionen:
     

Periode

 
 
    
  • f0(x) = g(x)
    Das ist die Sägezahnfunktion selbst. Sie ist überall stetig. Ihr Graph besitzt an allen ganzzahligen Vielfachen von 1/2 (d.h. an den Stellen 0, ±1/2, ±1, ±3/2, ...) Knicke. An diesen Stellen ist f0 nicht differenzierbar.
     
  • f1(x) = g(x) + g(2x)/2
    Sie kommt zustande, indem eine um den Faktor 2 "verkleinerte" und um denselben Faktor in x-Richtung "geschrumpfte" Version der Sägezahnfunktion zu f0 addiert wird. Ihr Graph besitzt nun auch an (allerdings nicht allen) ganzzahligen Vielfachen von 1/4 Knicke. Insgesamt liegen die Knickstellen von f1 bereits etwas dichter als jene von f0.
     
  • f2(x) = g(x) + g(2x)/2 + g(4x)/4
    Sie kommt zustande, indem eine um den Faktor 4 "verkleinerte" und um denselben Faktor in x-Richtung "geschrumpfte" Version der Sägezahnfunktion zu f1 hinzuaddiert wird. Ihr Graph besitzt nun auch an (allerdings nicht allen) ganzzahligen Vielfachen von 1/8 Knicke. Insgesamt hat sich die Dichte der Knickstellen im Vergleich zu f1 erhöht.
     
  • f3(x) = g(x) + g(2x)/2 + g(4x)/4 + g(8x)/8
    Und so geht es nach dem gleichen Schema weiter. f3 ist an vielen (allerdings nicht allen) ganzzahligen Vielfachen von 1/16 nicht differenzierbar, f4 besitzt zahlreiche Knickstellen an ganzzahligen Vielfachen von 1/32, usw. Nach jedem Schritt liegen die Knickstellen dichter.
     
     
 
 
    
Die Funktion, um die es uns geht, ist der Grenzwert von fn(x) für n ® ¥, d.h. die Reihe ("unendliche Summe")

  ¥    2-n g(2n x) .   
f(x)   =   S
  n = 0
  (10)

Diese Funktion ist für alle reellen Zahlen wohldefiniert und stetig. Ihren Graphen (siehe Button) können wir uns nicht gut vorstellen, aber dennoch ist er eine wohldefinierte Punktmenge in der Zeichenebene. Dass die Reihe für alle x existiert, ergibt sich daraus, dass g zwischen 0 und 1/2 beschränkt ist und die unendliche Summe über alle 2-n endlich ist. (Sie hat den Wert 2). Das liefert eine obere Schranke für die Summen fn(x), die auch für große n nicht überschritten wird. Auf den Beweis der Stetigkeit gehen wir hier nicht ein. Man kann aber auch zeigen, dass f an keiner Stelle differenzierbar ist. Intuitiv lässt sich das so verstehen, dass sich die Zahl der Knicke durch jede hinzuaddierte Version der Sägezahnfunktion erhöht, bis sie schließlich so dicht liegen, dass dadurch die Existenz jeglicher Tangente an den Graphen verunmöglicht wird.

Die Funktion (10) besitzt übrigens die interessante Eigenschaft der (näherungsweisen) Selbstähnlichkeit: Wir können die Reihe in der Form f(x) = g(x) + (1/2) × (g(2x) + g(4x)/2 + g(8x)/4 + ...) schreiben. Der hervorgehobene Klammerausdruck ist aber nichts anderes als f(2x), woraus sich ergibt:

f(x)  =  g(x) + f(2x)/2 .
  (11)

Der letzte Term stellt eine um den Faktor 2 "verkleinerte" und um denselben Faktor in x-Richtung "geschrumpfte" Version von f dar. Das bedeutet, dass f die Summe aus der Sägezahnfunktion g und einer "kleiner skalierten" Version von sich selbst ist! All die Feinstruktur, die der Graph von f aufweist, findet sich in verkleinerter Form in ihm selbst wieder! Sehen wir ihn uns durch eine Lupe mit Vergrößerungsfaktor 2 an, so wird er ähnlich aussehen wie nicht vergrößerte Graph, und dasselbe gilt bei einer weiteren Vergrößerung um den Faktor 2 usw. Eine Punktmenge mit dieser Eigenschaft nennen wir ein (selbstähnliches) Fraktal. Hier haben wir einen schönen Unterschied zwischen den Graphen überall differenzierbarer und nirgends differenzierbarer Funktionen. Während sich erstere unter genügend starker Vergrößerung kaum von Geraden unterscheiden, werden an letzteren auch bei fortwährendem "Näherzoomen" immer wieder neue Strukturen sichtbar, die die Existenz von Tangenten verhindern.
Beispiel 2: Nach einem ganz ähnlichen Strickmuster wird eine andere (auf Karl Weierstraß zurückgehende) stetige, aber nirgends differenzierbare Funktion konstruiert. Wir verzichten auf eine ausführliche Herleitung und schreiben sie einfach als Reihe hin:

  ¥    2-n/2 sin(2n x) .   
w(x)   =   S
  n = 0
  (12)

Ihre Bestandteile, die Funktionen 2-n/2 sin(2n x), sind überall differenzierbar, und ihr Graph (genauer: der Graph einer Summe bis zu einem großen aber endlichen n, wie er auf einem Bildschirm oder Blatt Papier gerade noch dargestellt werden kann) sieht atemberaubend aus: Geben Sie nacheinander die ersten drei dieser Summen
  • sin(x)
  • sin(x) + 2^(-1/2)*sin(2*x)
  • sin(x) + 2^(-1/2)*sin(2*x) + 2^(-1)*sin(4*x)
und dann den Ausdruck für die siebente Summe


(mit Kopieren & Einfügen) in den Funktions-Plotter ein! Sehen Sie sich auch den zuletzt addierten Beitrag 2^(-3)*sin(64*x) an!

Auch die Funktion (12) genügt einer zu (11) analogen Beziehung

w(x)  =  sin x + 2-1/2 w(2x) ,
  (13)

die erweist, dass ihr Graph ein selbstähnliches Fraktal ist.
     


Reihen


 
     Im Applet rechts können Sie das schrittweise Entstehen der Graphen dieser beiden Beispiele mitverfolgen.

Dass die Differenzierbarkeit einer Funktion durch deren Stetigkeit nicht garantiert ist, wurde erst im 19. Jahrhundert erkannt. Aus der geometrischen Anschauung heraus glaubte man lange Zeit, dass der Graph einer stetigen Funktion überall (außer in einzelnen isolierten Punkten) eine Tangente besitzt. Erst durch die Präzisierung der Begriffe Stetigkeit und Differenzierbarkeit und durch die Konstruktion von Beispielen wie den beiden gerade vorgeführten, wurden diese Irrtümer erkannt.

 
     
Applet
Nirgends
differenzierbare
Funktionen
 
    
Verallgemeinerungen
     
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In diesem Kapitel haben wir nur reelle Funktionen untersucht, d.h. solche, deren Definitions- und Wertebereich Teilmengen der Menge der reellen Zahlen sind. Die Begriffe der Differenzierbarkeit und der Ableitung können aber in mehrfacher Hinsicht auch auf andere Klassen von Funktionen verallgemeinert werden. Einige dieser Verallgemeinerungen werden in anderen Kapitel zumindest gestreift.
  • Für Funktionen in mehreren Variablen lässt sich auf natürliche Weise eine Verallgemeinerung des Ableitungsbegriffs definieren: Die partiellen Ableitungen einer Funktion f º f(x, y) werden berechnet, indem eine Variable konstant gehalten und nach der anderen differenziert wird.
  • Im Rahmen der komplexen Zahlen ergibt sich ein Differenzierbarkeitsbegriff, der sich vom hier besprochenen erheblich unterscheidet. Er führt auf den Begriff der analytischen Funktionen.
  • In der Variationsrechnung wird die Ableitung zur so genannten Funktionalableitung verallgemeinert, d.h. für Funktionen, die auf Mengen von Funktionen definiert sind.
  • In der Konstruktion zahlreicher anderer mathematischer Strukturen und Räume (wie zum Beispiel der so genannten verallgemeinerten Funktionen) spielt die Idee der Ableitung eine wichtige Rolle.
  • Die kovariante Ableitung von Objekten, die "Tensoren" genannt werden und Verallgemeinerungen von Vektoren darstellen, ist für die moderne Physik unverzichtbar geworden.
In den meisten dieser Gebiete werden die Differenzierbarkeitseigenschaften reeller Funktionen und der Zusammenhang mit dem Stetigkeitsbegriff benutzt. Was wir in diesem Kapitel besprochen haben, steht also Pate für zahlreiche Weiterentwicklungen der Mathematik.

     




partielle Ableitung
(in Vorbereitung)


analytische Funktionen
 

Funktionalableitung
(in Vorbereitung)
verallgemeinerte
Funktionen

(in Vorbereitung)
kovariante Ableitung
(in Vorbereitung)
 
 
     Zuletzt sei noch erwähnt, dass im Fall von Funktionen, die auf diskreten Mengen (auf endlichen Mengen oder auf der Menge der natürlichen Zahlen) definiert sind, die Differenzenquotienten einen gewissen Ersatz für die Ableitung darstellen. Die mit ihrer Hilfe formulierten Differenzengleichungen werden häufig dazu benutzt, um dynamische Prozesse zu modellieren und zu simulieren.

 
     

Differenzengleichungen
(in Vorbereitung)

 
 


 
 
 
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