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e und der Zinssatz:

Manchmal wird das Auftauchen der Zahl e im Mathematikunterricht mit der Zinseszins-Rechnung in Verbindung gebracht. Mehrere Varianten eines solchen Zusammenhangs sind in Umlauf. Wir greifen zwei davon heraus:
  1. Keine kontinuierliche Verzinsung ohne e?
  2. Eine andere Geschichte
 
      1. Keine kontinuierliche Verzinsung ohne e?

Um die mathematische Struktur der Argumentation möglichst klar zu beschreiben (und auch, um auf einen Punkt hinzuweisen, der bei oberflächlicher Behandlung leicht übersehen wird), formulieren wir sie in Form einer Debatte über Methoden der Verzinsung.

Die handelnden Personen:
Boris Anko-Matt, Banker
Carla di Conte, Bankerin
Justus Zinser, Banker
Mathilde Formel-Fischer, Mathematikerin
Lombardo da Vinci, Supervisor und Controler


Üblicherweise soll diese oder eine ähnliche Argumentation aufzeigen, dass die Zahl e auf zwanglose Weise aus der Idee der kontinuerlichen Verzinsung entsteht. Hören wir uns die Geschichte aber bis zum Ende an:
 

Die Geschichte mit e und der kontinuierlichen Verzinsung hat also einen "näherungsweise wahren" Kern. Sie lässt aber gänzlich offen, wieso ausgerechnet diese Zahl eine "natürliche" Basis sein soll, wo doch die Exponentialfunktion mit Basis 1+ p die exakte Lösung des Problems darstellt und e nur im Zusammenhang mit einer Näherung auftritt.

Nachbemerkungen: Wenn an der "Formel mit e" festgehalten und der jährliche Zinssatz der kontinuierlichen Verzinsung als p bezeichnet werden soll, muss die Konstante p durch ln(1+ p) ersetzt werden, wobei ln der später in diesem Kapitel zu besprechende "natürliche Logarithmus" ist. Das rührt von der Identität

(1+ p)t  =  e t ln(1+ p)

her, die unmittelbar aus der späteren Formel (28) folgt. Sie zeigt, dass sich die Zahl e über den Logarithmus im Exponenten wieder "weghebt", d.h. dass sie nur "scheinbar" in die Formel für die kontinuierliche Verzinsung geraten ist, während die linke Seite vom Standpunkt der Formeln für das Wachstum von Bakterienkulturen und dergleichen die einleuchtendere Variante ist.

Verwirrenderweise wird in manchen Lehrbüchern die Formel e pt präsentiert, p (genauer: p × 100%) aber nach wie vor als "jährlicher Zinssatz" bezeichnet. Es sollte dabei auf jeden Fall bedacht werden, dass es sich dabei um eine fiktive, nicht um die dem Kunden versprochene Form der Verzinsung handelt.

 
      2. Eine andere Geschichte

Da die Zahl e - wie wir gerade gesehen haben - im Rahmen der kontinuierlichen Verzinsung gar nicht so zwangsläufig auftritt, wie manchmal angenommen wird, wird sie manchmal in eine andere Variante der Geschichte gekleidet, die das Missverständnis, die Bank würde zur Berechnung der Zinsen die "Formel mit e" verwenden, gar nicht aufkommen lässt. In ihr versucht ein Anleger, durch bloßes Abheben und Einlegen möglichst viel Profit herauszuschlagen.

Es wird angenommen, dass eine Bank innerhalb eines Jahren die einfache (anteilige) Verzinsung zwischen dem Einlege- und dem Abhebungsdatum anbietet. Der Einfachheit halber sei der Zinssatz 100%, d.h jede Einlage verdoppelt sich innerhalb eines Jahres. Wird eine Einlage etwa nach einem Vierteljahr abgehoben, so wird sie mit 25% verzinst. Wenn jemand sein Geld (das ursprünglich den Wert 1 hatte) nach einem halben Jahr abhebt, erhält er 1+ 1/2 ausbezahlt. Er legt es sofort wieder ein, um nach einem weiteren halben Jahr (1+ 1/2)2, also 2.25 zu kassieren, was größer ist als 2. Wird das Geld jedes Vierteljahr abgehoben und sogleich wieder eingelegt, so ergibt sich am Jahresende ein Kapital von (1+ 1/4)4, und ganz allgemein ist bei einer Zerlegung des Jahres in n Abschnitte, nach denen jeweils abgehoben und wieder eingelegt wird, der ausbezahlte Endbetrag (1+ 1/n)n. Hier haben wir wieder unseren geheimnisvollen Term! Da er mit zunehmendem n wächst, ist die Strategie umso besser, je größer n ist. Allerdings kann der Wert des Kapitels nie e (also 2.71828...) übersteigen.
Die Zahl e tritt hier als prinzipielle Schranke der Ausnutzbarkeit des Systems der einfachen Verzinsung auf. Ist der jährliche Zinssatz p × 100%, so ist der Grenzbetrag für die kontinuierliche Bank-Überlistungsstrategie durch e p gegeben. Mathematisch ist diese Strategie mit der in der ersten Variante diskutierten Verfahrensweise der Banker (vor Lombardos Einwand) identisch. Wie die erste, so lässt auch die zweite Variante offen, wieso ausgerechnet e eine "natürliche" Basis sein soll.