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Beweis von (15) bzw. (15'):
 
f '(x)    =    1
x'( f )
  (15)

bzw., in der Leibnizschen Formulierung,

df
dx
   =   (  dx
df
 )   -1
  ( 15' )

Formulieren wir diese Rechenregel zunächst etwas genauer: Wir beginnen mit einer Funktion f : x ® f(x) und wählen eine Stelle x0. Sei f0 der zugehörige Funktionswert, d.h. f0 = f(x0). Nun betrachten wir auch die inverse Funktion xf ® x( f ). Für sie gilt x0 = x( f0), d.h. an der Stelle f0 ist ihr Funktionswert x0. Beachten Sie diesen Rollentausch von Stelle und Funktionswert. Unter dem Paar "Funktion" und "inverse Funktion" können wir uns zwei Größen f und x vorstellen, die entsprechend einer gewissen Gesetzmäßigkeit voneinander abhängen. Wird eine vorgegeben, so ist die andere eindeutig bestimmt.
 
Die genauere Formulierung der Rechenregel (15) bzw. (15' ) lautet:

f '(x0)    =    1
x'( f0 )
 .
  ( 15'' )

Wir führen nun zwei mögliche Beweise vor (einen rechnerischen und einen geometrisch inspirierten):

 
Beweis 1:
Für den rechnerischen Beweis ist es günstig, die inverse Funktion mit einem eigenen Symbol zu bezeichnen. In der Mathematik ist die Bezeichnung f -1 üblich (siehe Kapitel Funktionen 1), wir wählen aber an dieser Stelle den Buchstaben j, um uns nicht allzu viele hochgestellte Symbole einzuwirtschaften. Da die Funktionen f und j zueinander invers sind, gilt

j( f(x))  =  x

für alle x. (Es genügt, wenn das für alle x gilt, die sich in der Nachbarschaft von x0 befinden). Nun differenzieren wir beide Seiten dieser Identität nach x und erhalten unter Zuhilfenahme der Kettenregel (14)

j'( f(x))  f '(x)  =  1.

Wir setzen x = x0 ein und verwenden f(x0) = f0, womit sich

j'( f0)  f '(x0)  =  1,

ergibt. Zuletzt lösen nach f '(x0) auf, bedenken, dass j'( f0) nichts anderes als x'( f0) bedeutet und erhalten genau unsere Rechenregel in der Formulierung (15'' ). Sie folgt also unmittelbar aus der Tatsache, dass j "die Wirkung von f aufhebt".


Beweis 2:
Um einen geometrisch inspirierten Beweis zu führen, betrachten wir kleine Änderungen der beiden Größen x und f, ausgehend von den Werten x0 und f0, zu neuen Werten x0 + Dx und f0 + Df. Die Änderungen Dx und Df können nicht unabhängig voneinander vorgegeben werden: Wird eine vorgegeben, so ist die andere eindeutig bestimmt. Wie sie mit den Differenzenquotienten der beiden Funktionen zusammenhängen, entnehmen wir der folgenden Graphik. Die Skizzen sind gespiegelte Versionen voneinander - sie stellen denselben Zusammenhang zwischen den Größen x und f dar:

   

Funktion f : x ® f(x)
 
Funktion xf ® x( f )
Differenzenquotient
an der Stelle x0:
 Df
Dx
 
  Differenzenquotient
an der Stelle f0:
 Dx
Df
 

Im Grenzwert beliebig kleiner Änderungen strebt der Differenzenquotient der Funktion f gegen die Ableitung f '(x0), während jener der inversen Funktion gegen die Ableitung x'( f0) strebt. Die Tatsache, dass die beiden Differentialquotienten Kehrwerte voneinander sind, geht in die Aussage (15'' ) bzw. in die intuitiv ansprechendere Version (15' ) über.


Damit ist eigentlich alles bewiesen. Wir wollen uns aber noch kurz überlegen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit die Sache klappt: Ist die letzte Bedingung nicht erfüllt, so ist die inverse Funktion an der Stelle f0 nicht differenzierbar. Das tritt beispielsweise auf, wenn wir die Funktion f(x) = x3 betrachten. Die Inverse ist x( f ) = f 1/3, wobei wir vereinbaren, dass die dritte Wurzel einer negativen Zahl negativ ist. Beide Funktionen sind für alle reellen Zahlen definiert. Nun betrachten wir die Stelle x0 = 0. An ihr gilt f '(x0) = 0, die letzte Bedingung ist also verletzt. Der Graph von f besitzt im Punkt (0, 0) eine "horizontale" Tangente. Der entsprechende Funktionswert ist f0 = 0. An ihm ist die inverse Funktion zwar definiert, aber nicht differenzierbar, da ihr Graph (der Graph der Funktion "Bilden der dritten Wurzel") im Punkt (0, 0) eine "vertikale" Tangente besitzt!



Nachbemerkung: Unter Verwendung der Schreibweise f o g für die Verkettung (wie im Kapitel Funktionen 2 besprochen) kann die Regel (15) auch in der kompakten Form

f '    =    1
j' o f
  ( 15''' )

geschrieben werden, wobei j wie oben die zu f inverse Funktion (für die oft auch f -1 geschrieben wird) bezeichnet. In dieser Schreibweise ist der Beweis für Formel (15) in der Fassung (15''' ) besonders kurz und elegant. Dazu stellen wir zunächst fest: Der Beweis von (15''' ) ist nun ganz einfach: Wir differenzieren die linke und die rechte Seite der Identität  j o f  =  id  und erhalten mit der Kettenregel in der Form (14'' )

(j' o f )  f '   =   1,

was (nach f ' aufgelöst) genau (15''' ) ergibt. Letztlich ist diese Argumentation nichts anderes als eine kompakte Form der oben geführten ersten Beweisvariante.